Prävention von Verletzungen beim Klettern

Teil 1

Kletterspezifische Anatomie

Klettern ist unsere Leidenschaft. Um sie lebenslang voll und ganz zu genießen ist es wichtig, dass wir auf unseren Körper achten und ihm die notwendige Unterstützung im Sinne von Training und Risikovermeidung liefern. Dieser Artikel ist der erste einer 4-teiligen Reihe über kletterspezifisches Präventionstraining. Die Übungsroutinen und Tipps, die wir Euch vermitteln werden, kommen aus der Physiotherapie, sind wissenschaftlich bewiesen und für die Kletterbedürfnisse angepasst.

Genug geredet. Fangen wir mal an! Als Erstes ist eine Erklärung der wichtigsten Spieler auf dem Feld nötig: Muskeln, Sehnen, Knochen und Bänder. Sie alle gehören zum Bewegungsapparat.

Muskeln und Sehnen bilden zusammen ein perfektes Team und werden „aktive Strukturen“ genannt: sie starten und beenden jede Bewegung. Wenn wir uns bewegen möchten, spannen wir die entsprechenden Muskeln an. Unsere Muskeln liegen nicht alleine da im Körper, sondern werden von den Sehnen an unseren Knochen „befestigt“. Ja, richtig, die Sehnen dienen der Zugübertragung und die Kontraktionskraft wird damit auf die Knochen übertragen. Damit kann die Bewegung erst stattfinden! Die Sehnen sind aber auch gleichzeitig eine Art Feder. Wenn gedehnt, speichern sie einen Teil der Energie und setzten diesen bei der auszuführenden Bewegung wieder frei. Damit kann die Kraft besser dosiert und kontrolliert werden. Die Bewegungsabläufe werden dank unserer Sehnen optimiert, effizienter und damit runder.

Knochen und Bänder sind dagegen „passive Strukturen“, weil sie eine Art „Stützapparat“ bilden. Sie initiieren die Bewegung nicht, sondern werden von den aktiven Strukturen in die Bewegung eingeleitet und belastet. Knochen sind das Gerüst unseres Körpers und bilden die Gelenke. Bänder bestehen aus straffem Bindegewebe und sind weniger elastisch als die aktiven Strukturen; sie verleihen den Gelenken Stabilität und Stützung und hemmen bei Bedarf die Beweglichkeit der Knochen untereinander.

Damit zur Basis, nun aber eine kurze Einführung in die kletterspezifischen Anatomie, um später die Verletzungsrisiken besser zu verstehen und die damit einhergehenden Präventionsmaßnahmen.

SCHULTER

Der Schulterbereich ist jener Bereich, der in unserem Körper am beweglichsten ist. Er besteht aus einem Hauptgelenk, dem Schultergelenk, und mehreren „Nebengelenken“. Teile des Bizepses und Trizepses haben ihren Ursprung auch im Schultergelenk. Der komplexe Aufbau ermöglicht eine mühelose Armbewegung in allen drei Achsen des Raumes, d.h. in jeder Richtung. Und wie Ihr schon erahnen könnt, ist das Schultergelenk unser wichtigstes Gelenk für das Klettern! Wie ist das Schultergelenk nun aber aufgebaut? Es wird vom Kopf des Oberarmknochens und von einem Teil des Schulterblattes gebildet. Über den Schultergürtel ist das Schultergelenk dann mit der Wirbelsäule und dem Brustkasten verbunden. Somit ist der gesamte Schulterbereich – besonders die Schulterblätter – für die Haltung und Oberkörpermobilität sehr wichtig.

Der vermehrte Bewegungsumfang des Schultergelenkes macht es gleichzeitig Anfällig für Verletzungen und Instabilität. Deswegen wird die Schulter von einer Reihe von kleinen Muskeln – die Rotatorenmanschette – und Sehnen und Bänder umgegeben und stabiler gemacht. Ohne diese Stabilisatoren würde sich unsere Schulter bei jeder kleinen Bewegung verrenken. Hinzu wird der Gelenkrand rundherum von einer knorpeligen Lippe umgeben, welche dem Meniskus ähnlich ist, um die Kraft effizienter zu übertragen. Darüber hinaus ist diese ganze Struktur sehr dicht gebaut, da ein Teil dieser Stabilisatoren über einen knöchernen Engpass im Schulterblatt verläuft.

ELLENBOGEN

Der Ellenbogen zeichnet sich dadurch aus, dass er drei Knochen miteinander verbindet. Der Oberarmknochen artikuliert unten mit den zwei Unterarmknochen und die drei Knochen zusammen bildet das Ellenbogengelenk. So wird zum einem das Beugen und Strecken und zum anderem das Umwenden bzw. Drehen des Unterarms ermöglicht. In Kombination mit der Mobilität des Schultergelenkes wird dadurch einen hohen Bewegungsumfang gewährleistet. Das Ellenbogengelenk ist ein sehr stabiles Gelenk das auch Stabilität an Handgelenk und Hand verleiht. Die Hand- und Handgelenkmuskulatur hat seinen Ursprung am Ellenbogen. Daher sind Ellenbogen und Hand zwei voneinander abhängige und miteinander vernetzte Einheiten. Aber das wisst Ihr sicher schon aus Erfahrung, oder?

Unser Ellenbogen hat noch eine Besonderheit. Die wichtigsten Blutgefäße und Oberkörpernerven verlaufen vom Rückenmark über die Beugeseite des Ellenbogens entlang bis zur Hand. Am Ellenbogen befindet sich auch der „Musikantenknochen“, der eigentlich gar kein Knochen ist, sondern nicht anders als eine empfindliche Stelle des Ellennervs, der Nervus Ulnaris.

HAND

Bei dieser kleinen Anatomie-Einführung sind natürlich die Hände am faszinierendsten. Sie ermöglichen Kleinkindern die Welt zu entdecken und bei Erwachsenen, sowohl die Erledigung aller täglichen Aktivitäten, als auch die sorgfältige Ausführung von künstlerischen und handwerklichen Tätigkeiten. Sie sind kräftig und robust aber nichtsdestotrotz einer der präzisesten Organe in unserem Körper. Unsere Hände werden von 27 verschiedenen Knochen gebildet, aber wir fokussieren uns hier in diesem Blog auf die Fingerknochen. Jeder Finger hat eine eigene Muskulatur, um damit gleichzeitig verschiedene Fingerpositionen zu ermöglichen. Die Sehnen der Fingerbeugemuskulatur werden im Verlauf der jeweiligen Finger von einer Sehnenscheide umgeben. Sehnen und Sehnenscheiden werden von einem Bandapparat entlang des Fingers geführt und gehalten. Die Fingerbeugung und Daumenopposition ermöglichen das Greifen, eine Fähigkeit, die wir in der Natur nur mit den Affen teilen. Als Menschen sind wir damit den Tieren einen Schritt voraus und haben diese Möglichkeit für verschiedenste Anwendungen ausgenutzt: die Fingergelenke werden beim Fingerbeugen stabiler als beim Fingerstrecken, um das Greifen zu unterstützten und verstärken.

Am Handgelenk befindet sich der Karpaltunnel, ein weiterer Engpass, der in unserem Körper gefunden werden kann. Durch den Karpaltunnel verlaufen einige Sehnen der Fingerbeugemuskulatur und der Mediannerv, einer der Oberkörpernerven, die durch den Ellenbogen geführt werden.

Jetzt seid Ihr bereits kleine Anatomieexperten geworden und bereit für den nächsten Schritt. Anatomie alleine ist nur ein sehr trockenes Wissen, wenn wir es nicht mit der Bewegungsdynamik verknüpfen. Dazu brauchen wir nur noch ein wenig Aufrischung über die Biomechanik der Arme und Hände. Aber keine Sorge, wir sind schon im Endspurt!

BIOMECHANIK

Klettern ist für den Oberkörper eine Zug-Aktivität: rein mechanisch gesehen wird beim Klettern ständig gezogen. Beim Heranziehen bewegen wir unseren Oberkörper und bringen uns damit näher an unsere Hände. Eine Druck-Aktivität wäre dagegen eine Aktivität, wo wir unser Körper weg (vom Boden oder von der Wand) drücken.

Im Allgemeinen sind unseren Muskeln in manchen Positionen kräftiger und in anderen Positionen schwächer. Was ist die geeignetste Position, um Greifkraft zu entwickeln? Mit einem leicht gestreckten Handgelenk! Ihr könnt es schnell testen. Entspannt Eure rechte Hand und lasst sie hängen: die Finger sollten fast gerade fallen. Jetzt streckt ein wenig das Handgelenk (ungefähr 10 Grad). Die Finger werden sich von alleine ein wenig beugen, ohne dass Ihr extra Kraft einsetzen musstet. Das ist die geeignetste Position des Handgelenks um Greifkraft zu entwickelt und sie ist auch die gleiche Position, die wir üblicherweise beim Klettern anwenden.

Allerdings ist der menschliche Körper nicht unbedingt für das Klettern konzipiert, weil das Greifen eigentlich nur mit gestreckten Ellenbogen erfolgen sollte! Mutter Natur hat unsere Hand- und Ellenbogenmuskeln so konzipiert, dass wir beim Greifen mit gestreckten Armen die größte Kraft entwickeln und gleichzeitig ist diese Position auch schonender für Oberkörper, als das Greifen mit gebeugten Armen. Greifen mit gestreckten Ellenbogen ist auch die Stellung, die wir normalerweise beim Tragen von Gegenständen benutzen (Einkaufstaschen sind dafür das perfekte Beispiel).

Sind aber auch einige Finger stärker als andere? Ja und nein. Natürlich kann man die einzelnen Finger trainieren. Man sollte aber die Biomechanik, d.h. der Grund, warum sie so aufgebaut sind, nicht vergessen. Der Daumen ist unser stärkster Finger. Seine Stärke wird aber leider nur indirekt beim Klettern verwendet. Mittel- und Ringfinger sind diejenige, die beim Klettern die meiste Kraft entwickeln können, aber nur, weil sie von den anderen Fingern umgegeben werden. Kurz erklärt, der Mittelfinger grenzt auf der einen Seite mit dem Zeigefinger und auf der anderen Seite mit dem Ringfinger an. Dadurch umgeben kann er mehr Kraft entwickeln und trotzdem stabil bleiben. Dasselbe aber natürlich auch für den Ringfinger der auf der Seite von Mittelfinger und kleinem Finger unterstützt wird.

Geschafft! Soweit sind wir fertig. Wir hoffen, dass es Euch der kleine Exkurs in die Anatomie genau so viel Spaß gemacht hat, wie uns! In unserem nächsten Blogeintrag werden wir intensiv über die üblichen Verdächtigen – die Verletzungsrisiken beim Klettern – schreiben. Dranbleiben, es wird auf jeden Fall noch spannender!

claudia

Steckbrief – Claudia

Ich bin Physiotherapeutin, Asien-Liebhaberin und eine etwas seltsame Kletterin. Ich komme ursprünglich aus Italien – genauer gesagt 138 Km von Arco entfernt – war dort aber noch nie klettern. Wenn ich draußen in der freien Natur bin, dann bevorzuge ich andere Aktivitäten wie Wandern, Laufen und Skifahren. Künstliche Kletterwände – je steiler, desto besser – sind dafür aber meine große Kletterleidenschaft. Ich kenne jede Kletterhalle in der Umgebung und wenn ich meinen Urlaub plane, achte ich immer darauf, dass es dort auch eine Kletterhalle gibt – Ihr findet mich dort auf jedem Fall!

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